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Schräglage

Schräg, schräger, am schrägsten

Wer fährt wirklich wie schräg? Wo liegen die Grenzen? Und welche Unterschiede bestehen bei Serienbikes? Wir scheuchten vier Motorräder aus unterschiedlichen Gattungen um eine Kreisbahn: Supermoto, Naked Bike, Cruiser und Superbike.
 
Volkmar Jacob, Karsten Schwers

Husqvarna Supermoto 701. Aufrecht sitzend sind Fahrzeugschräglage und kombinierte Schräglage (Bike mit Fahrer) grundsätzlich identisch.

Geht es um Superlative, kursieren oft die wildesten Zahlen: das schnellste, stärkste, teuerste Bike, und so weiter. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Schräglage. Akteuren aus den verschiedensten Motorsport-Disziplinen werden mitunter abenteuerliche Neigungswinkel angedichtet. Manchmal gilt das auch für jene des besten Kumpels oder gar die eigenen. Doch wer fährt wirklich wie schräg? Wo liegen die Grenzen? Und welche Unterschiede bestehen bei Serienbikes? Um das zu klären, scheuchten wir vier Maschinen aus unterschiedlichen Gattungen – Supermoto, Naked Bike, Cruiser und Superbike – um eine Kreisbahn; haben gemessen, geprüft und uns zusätzlich bei Experten umgehört. Außerdem prügelten wir einen waschechten Qualifying-Gummi aus der Superbike-WM um die Radien und checkten den Unterschied zu einem sportlichen Serienreifen. Willkommen in der faszinierenden Welt der Schräglage!

Wozu Schräglage?
Am Anfang steht die Frage nach dem Warum: Wozu benötigt ein Einspurfahrzeug bei Kurvenfahrten überhaupt Schräglage? Antworten liefert die Physik. Weil bei dieser Übung Fliehkräfte (Zentrifugalkräfte) entstehen, die diese Fahrzeuge ohne Schräglage einfach nach außen umkippen lassen würden. In Schräglage wirkt die nach innen verlagerte Gewichtskraft von Pilot und Maschine den Fliehkräften entgegen. Die Höhe von Kraft und Gegenkraft hängt vom Kurvenradius und der Geschwindigkeit ab: Je kleiner der Radius und/oder je schneller die Fuhre, desto größere Schräglagen sind nötig. Im Grunde verdanken wir den Kurvenspaß also der Physik – sie lebe hoch!

Wie viel Schräglage geht?
Bei sportlichen Bikes mit reichlich Schräglagenfreiheit hängt das maßgeblich von der Haftreibung ab. Haftreibung? Darunter versteht man jene Kraft, die ein Gleiten sich berührender Körper verhindert. In unserem Fall setzt sich die Haftreibung aus Reifen und Asphalt zusammen. Der kraftradelnde Volksmund spricht hierbei lieber von Grip, was deutlich greifbarer klingt. Die Höhe der Haftreibung zwischen Reifen und Asphalt wird mit dem Reibungskoeffizient µ (sprich: mü) bezeichnet. Bei ordentlichen Reifen auf guten Landstraßen entspricht µ = 1.
 
Bei diesem Wert begrenzt die Physik die theoretische Schräglage auf 45 Grad. Wer schräger fährt, Gas gibt oder bremst, rutscht garantiert ins Off. Dennoch sind auch größere Schräglagen möglich. Warum? Weil sich sehr griffige Reifen mit sehr rauem Asphalt stark verzahnen, was den Grip erhöht. Besonders auf Rennstrecken lassen sich damit atemberaubende Schräglagen realisieren. MotoGP-Piloten und auch die Jungs aus der Superbike-WM schaffen bis zu satten 62 Grad Fahrzeugschräglage. Bei extremem Hanging-off liegt die effektive Schräglage sogar noch etwas höher. Wie bitte? Verschiedene Schräglagen?

Schräglage ist nicht gleich Schräglage

Kurvenkünstler Jorge Lorenzo zeigt uns den Unterschied zwischen der Fahrzeugschräglage und der dritten Schräglage.

Zur Erklärung ist ein klein wenig Theorie nötig. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen drei Schräglagen. Nennen wir die erste effektive Schräglage. Sie ist ein theoretischer Wert und errechnet sich aus der Kurvengeschwindigkeit und dem Kurvenradius. Sie gilt unumstößlich für jedes Bike und jeden Piloten. Die effektive Schräglage bezieht sich allerdings auf unendlich schmale Reifen (entspricht einer dünnen Linie). Nun zur Praxis. Dazu stellen wir uns eine senkrecht stehende Maschine von hinten vor. Vom Aufstandspunkt des Hinterreifens ziehen wir mittig eine senkrechte Linie durch das Bike. Diese Linie führt durch den Reifenaufstandspunkt und den Schwerpunkt. Grundsätzlich hängt die Schräglage auch immer mit dem Schwerpunkt zusammen. Stellen wir das Bike nun auf den Seitenständer. Im Gegensatz zu unserem unendlich schmalen Reifen verlagert sich der Reifenaufstandspunkt etwas zum Rand. Klar soweit? Gut. Je schräger wir die Maschine stellen, desto weiter wandert dieser Punkt nach außen zur Reifenschulter. Ziehen wir die Linie nun vom neuen Aufstandspunkt durch den Schwerpunkt, verläuft sie nicht mehr mittig durch das Bike, sondern bildet einen Winkel. Um diesen Winkel fährt unser Bike schräger als ein Fahrzeug mit unendlich schmalen Reifen. Die Skizzen (siehe Reifenbreite und Schwerpunktlage) veranschaulichen den Unterschied zwischen diesen beiden Linien. Diese Schräglage ist die Nummer zwei, wir nennen sie bezeichnenderweise Fahrzeugschräglage. Auf sie beziehen wir uns auch bei den Winkelangaben auf den Fotos.
 
MotoGP-Weltmeister Jorge Lorenzo zeigt uns den Unterschied zwischen der Fahrzeugschräglage und der dritten Schräglage (siehe Bild). Mit seinem extremen Hanging-off liegt der Mallorquiner wesentlich schräger in der Kurve als sein Untersatz. Unter der obligatorischen Berücksichtigung der Schwerpunktlagen ergibt sich die Nummer drei, die kombinierte Schräglage. Bei einer maximalen Fahrzeugschräglage von 62 Grad liegt diese bei den wildesten Burschen bei rund 66 Grad – absoluter Wahnsinn!

Was schaffen Serienbikes?
Nun steigen wir selbst in den Ring. Unser Fuhrpark besteht aus der brandneuen Husqvarna 701, einer Ducati Diavel, der BMW S 1000 R und der Honda Fireblade. Sämtliche Bikes jagen wir in drei verschiedenen Fahrstilen um die Kreisbahn: aufrecht sitzend, drückend und mit Hanging-off. Da jeder Stil einen anderen Gesamtschwerpunkt von Fahrer und Maschine bildet, ändern sich auch die Schräglagenwinkel – jene vom reinen Fahrzeug ebenso wie die kombinierte. Das Data-Recording ermittelt dabei die jeweiligen Kurvenspeeds. Welcher Stil liefert das höchste Tempo?

Schräglage mit der Husqvarna 701
Beginnen wir mit der Husqvarna 701. Als Erstes brennen wir aufrecht sitzend um die Kreisbahn (Durchmesser: 55 Meter) und tasten uns an die Reifenhaftgrenze heran. Da bei diesem Stil der Pilot und das Bike eine Linie mit der Längsachse bilden und der Schwerpunkt wieder genau durch diese Linie läuft, sind Fahrzeug und kombinierte Schräglage identisch: 47 Grad. Als Tempo spuckt das Messgerät 57 km/h aus.

Nun drücken wir die Husqvarna 701 im typischen Sumo-Stil in Schräglage. Das Resultat: 57 Grad Fahrzeugschräglage und 62 km/h Speed – für Serienreifen sehr beachtliche Werte. Leichte Slides und aufsetzende Anbauteile (Fußraste, Schalthebel und Seitenständer) markieren das Limit. Die kombinierte Schräglage aus Fahrzeug und Pilot beträgt 51 Grad. Die Differenz von sechs Grad ist die höchste des gesamten Vergleichs und resultiert aus dem geringen Gewicht des Fahrzeugs, seiner schmalen Bauart und der für diesen Fahrstil ausgelegten Ergonomie: hoher und breiter Lenker, schmaler Sitz, tiefe Rasten. Bei „normalen“ Maschinen fällt der Unterschied deutlich geringer aus.
 
Beim Hanging-off liegen die Geschwindigkeit und die kombinierte Schräglage exakt auf gleichem Niveau wie beim Drücken: 62 km/h, 51 Grad. Da der Pilot in diesem Fall weit unterhalb der Husqvarna 701 kauert, fällt die reine Fahrzeugschräglage mit 46 Grad folgerichtig geringer aus. Fürs reine Kurventempo ist es also egal, ob der Pilot unterhalb des Bikes hängt oder selbiges in die Ecken drückt. Dennoch bringt Drücken bei Sumos Vorteile. Der Pilot kann das Bike besser kontrollieren und es beispielsweise bei Slides leichter abfangen. Die Fotoshow zeigt die unterschiedlichen Fahrstile.

Sonderfall Ducati Diavel, Cruiser & Co.
Weiter oben haben wir gelernt, dass bei sportlichen Bikes der Grip die Schräglage begrenzt. Bei Maschinen mit geringer Bodenfreiheit bestimmen dagegen aufsetzende Teile das Limit. Ein gutes Beispiel hierfür bildet die Ducati Diavel. Bei rund 41 Grad schleifen die Fußrasten über den Asphalt. Da dieser Wert bei allen drei Fahrstilen identisch ist, können wir die Kurventempi wunderbar vergleichen. Aufrecht: 50 km/h, Drücken: 47 km/h, Hanging-off: 53 km/h. Warum unterschiedliche Geschwindigkeiten? Das liegt am (Gesamt-) Schwerpunkt. Beim Hanging-off sitzt er am tiefsten, wodurch günstigere Hebel wirken, die höhere Tempi ermöglichen. Nun wissen wir auch, warum Profi-Racer in Kurven so tief neben ihrem Bike hängen: alles eine Frage größtmöglicher Kurvenspeeds.

Diese physikalische Begebenheit ermöglicht MotoGP-Piloten auch, am Kurvenausgang stärker zu beschleunigen als auf der Geraden. Auf ebener Strecke entspricht die maximale Beschleunigung ungefähr der Erdanziehungskraft (= 9,81 m/s² = 1 g). Insider sprechen bei einer Schräglage von 45 Grad von Beschleunigungen bis zu 1,2 g. Ein unfassbarer Wert! Wir erinnern uns: 45 Grad auf der Landstraße sind nur im Rollmodus, also ohne Beschleunigen oder Bremsen, möglich. Die Mördergummis der MotoGP, griffiger Racing-Asphalt und massive Cojones der Piloten sind Voraussetzung für solche Manöver. Zum Vergleich: Mit seriennahen Bikes und Hypersportreifen auf gutem Rennstreckenbelag sind bei 40 Grad Schräglage Beschleunigungen von zirka einem g möglich.

Schräglage mit der Honda Fireblade
Nach den beiden Besonderheiten Supermoto und Cruiser schwingen wir uns mit der Fireblade auf einen gängigeren Maschinentyp. Die Honda bietet zwar reichlich Bodenfreiheit (Angstnippel der Fußrasten entfernen!), kann aber logischerweise nicht mit den erwähnten Vorteilen einer Supermoto aufwarten: zweckmäßige Ergonomie, geringes Gewicht, schmale Bauform. Welche Ergebnisse liefert die Honda Fireblade? Zunächst ziehen wir mit den Serienreifen – Bridgestone S20 in Sonderspezifikation „G“ – um die Kreisbahn. Wie erwartet, liefert sie mit Hanging-off ihren höchsten Kurvenspeed: 61 km/h. Die Fahrzeugschräglage beträgt 48 Grad, die kombinierte deren 51. Um die Werte der einzelnen Maschinen zu vergleichen, empfehlen wir die Übersichtstabelle (siehe Schräglagen und Geschwindigkeiten).

Welchen Unterschied machen Qualifier?
Nun wird es spannend. Die Qualifier aus der Superbike-WM sind vorgeheizt, los geht’s. Einfach unglaublich, wie die Gummis kleben und welches Feedback sie liefern! Immer tiefer tauchen Pilot und Maschine in Schräglage, die Pirellis gieren geradezu danach. Erst als sich die Blade sehr leicht anfühlt – ein untrügliches Zeichen des nahenden Limits –, lassen wir es gut sein. Das Mess-Equipment bescheinigt 65 km/h und eine Schräglage von 53 Grad (Fahrzeug). Die kombinierte Schräglage liegt mit 55 Grad zwei Grad darüber. Eindrucksvolle Werte, doch bei idealen Bedingungen ginge noch mehr. Einstellige Asphalttemperaturen, durchschnittlicher Grip des Belags und die leicht nach außen hängende Kreisbahn vereitelten absolute Bestmarken. Doch vor allem kühlen die Spezialgummis beim schlichten Kreiseln schnell ab. Die Reifen brauchen den Druck, der beim scharfen Bremsen und heftigen Beschleunigen entsteht, um im idealen Temperaturfenster zu bleiben.

„Mit Qualifiern fahren die Piloten nicht schräger als mit Rennreifen“, erklärt ein Pirelli-Techniker. „Ihr Vorteil ist, dass sie beim Bremsen und Beschleunigen in Schräglage mehr Reserven bieten. Das bringt zirka eine Sekunde pro Runde.“ Dazu muss man wissen, dass diese Spezialreifen nach einer, maximal zwei Runden ihren Geist aufgeben und in die Tonne wandern.

Schräglage mit der BMW S 1000 R
Als Letzte zirkelt die BMW S 1000 R um die Bahn. Mit ihren sportlichen Pellen (Pirelli Diablo Rosso Corsa) zieht sie sich mit 59 km/h im Hanging-off-Stil und 47 respektive 50 Grad Schräglage blendend aus der Affäre. Allerdings setzten hierbei die Angstnippel und der Schalthebel auf. Dennoch bleibt sie den Spezialisten Husqvarna 701 und Honda Fireblade dicht auf den Fersen. Ein sportliches Naked lässt sich bei der Kurvensause also nicht ohne Weiteres abhängen.
Doch wie wird der Normalo zum Schräglagen-König? Indem er fleißig übt und sich langsam ans Limit tastet. Das gelingt am besten unter professioneller Aufsicht bei einem speziellen Kurventraining, wie es beispielsweise das MOTORRAD action team anbietet (www.actionteam.de). Nur wer souverän durch die Ecken ballert, spürt die Magie der Schräglage. Und den Wahnsinn.

Husqvarna Supermoto 701

Husqvarna Supermoto 701. Aufrecht sitzend sind Fahrzeugschräglage und kombinierte Schräglage (Bike mit Fahrer) grundsätzlich identisch.

Aufrecht sitzend sind Fahrzeugschräglage und kombinierte Schräglage (Bike mit Fahrer) grundsätzlich identisch. Wie die anderen Fahrstile unten zeigen, sind mit der Husky 51 Grad kombinierte Schräglage und 62 km/h möglich. Der Tester fühlt sich aber mit der ungewohnten Sitzposition nicht wohl und kreiselt daher nur mit 47 Grad und 57 km/h.
 
Im Sumo-Stil ist die Fahrzeugschräglage mit 57 Grad wesentlich höher als die kombinierte (51 Grad). Grund: Der Körperschwerpunkt befindet sich weit außerhalb der Mittelachse. Das schlanke und leichte Bike im Verbund mit der vorteilhaften Ergonomie ermöglicht diesen Fahrstil. Slides und aufsetzende Elemente zeugen vom Limit.

Husqvarna Supermoto 701. Hanging off: Der Pilot bringt seinen Körperschwerpunkt nicht in gleichem Maß nach innen, wie er es beim Drücken nach außen schafft. Gelänge das, dann fiele die kombinierte Schräglage höher aus. Und mit ihr der Kurvenspeed.

Hier beträgt die Differenz zwischen Fahrzeugschräglage (46 Grad) und kombinierter Schräglage (51 Grad) nur fünf Grad. Das bedeutet, der Pilot bringt seinen Körperschwerpunkt nicht in gleichem Maß nach innen, wie er es beim Drücken nach außen schafft. Gelänge das, dann fiele die kombinierte Schräglage höher aus. Und mit ihr der Kurvenspeed.

Reifenbreite und Schwerpunktlage

Überzogene Darstellung, die zeigt, dass Reifenbreite und Schwerpunktlage Parameter sind, die die Schräglage beeinflusen.

Je schräger, desto schneller? Nicht unbedingt. Zumindest nicht bei Maschinen mit verschiedenen Reifenbreiten und unterschiedlich hohem Gesamtschwerpunkt von Bike und Fahrer. Beide Parameter beeinflussen die Schräglage. Um die Thematik zu verdeutlichen, sind die Grafiken der beiden Motorradtypen etwas überzogen dargestellt. Die linke Skizze zeigt eine Maschine mit schmalem Reifen und hohem Schwerpunkt. Rechts das Bike mit fetter Walze und tiefem Schwerpunkt. Bei identischer Kurvengeschwindigkeit benötigt die linke Maschine deutlich weniger Fahrzeugschräglage. Wie kommt‘s? Je schmaler der Pneu, desto geringer fällt der Abstand von der Reifenmitte (gelbe Linie = Längsachse des Bikes) zur Reifenschulter aus. Zieht man vom Reifenaufstandspunkt eine Linie durch den Schwerpunkt, fällt der Winkel zur Längsachse vergleichsweise gering aus. Die Längsachse bildet immer auch die Fahrzeugschräglage ab. Ein hoher Schwerpunkt verkleinert den Winkel zur Längsachse ebenfalls. Umgekehrt bildet ein breiter Reifen und/oder ein tiefer Schwerpunkt einen größeren Winkel, die Fahrzeugschräglage steigt. Da die Geschwindigkeit der gezeichneten Bikes identisch ist, ist auch die effektive Schräglage (gestrichelte Linie) gleich. Die Fahrzeugschräglagen unterscheiden sich dagegen deutlich. In der Praxis bedeutet das: Wenn die Husqvarna 701 und die Ducati Diavel mit 50 km/h um die Kreisbahn (Durchmesser 55 Meter) zirkeln, benötigt die Husky nur 38 Grad Fahrzeugschräglage, die Duc dagegen mit 41 Grad drei Grad mehr.

Kurvenkünstler Jorge Lorenzo

Der extreme Fahrstil des frisch gebackenen MotoGP-Weltmeisters Jorge Lorenzo verdeutlicht noch einmal den Unterschied zwischen der reinen Fahrzeugschräglage und der kombinierten Schräglage.

Der extreme Fahrstil des frisch gebackenen MotoGP-Weltmeisters Jorge Lorenzo verdeutlicht noch einmal den Unterschied zwischen der reinen Fahrzeugschräglage und der kombinierten Schräglage. Die obere Linie läuft mittig durch die Längsachse der Yamaha und damit exakt durch den Fahrzeugschwerpunkt. Da Lorenzo weit unterhalb seiner Maschine hängt, verlagert sich der Gesamtschwerpunkt nach innen. Dadurch steigt die kombinierte Schräglage (untere Linie, 66 Grad) und ermöglicht höhere Kurventempi. Dieser scharfe Fahrstil hat sich in den letzten Jahren bei den besten Piloten voll etabliert.

Seitenführungskraft und Schräglage

In Kurven will die Fliehkraft das Motorrad nach außen schieben. Das Rezept dagegen: Schräglage.

In Kurven will die Fliehkraft das Motorrad nach außen schieben. Das Rezept dagegen: Schräglage. Sie verlagert die Gewichtskraft von Fahrer und Maschine nach innen. Doch warum rutscht das Motorrad dabei nicht weg? Weil die Seitenführungskraft, also die Verzahnung des Reifens mit dem Asphalt, genauso groß ausfällt wie die Fliehkraft. Geht es schneller ums (gleiche) Eck, ist mehr Schräglage gefordert. Dadurch steigt die Fliehkraft und mit ihr die nötige Seitenführungskraft. Doch irgendwann setzt die Physik Grenzen. Die maximal mögliche Seitenführungskraft lässt sich über den sogenannten Reibungskoeffizienten μ bestimmen. Trockene, griffige Landstraßen im Verbund mit ordentlichen Straßenreifen bieten einen Wert von μ = 1. Das genügt für Schräglagenwinkel von maximal 45 Grad (Bild links). In diesem Fall ist die Fliehkraft so groß wie die Gewichtskraft von Fahrer und Maschine. Um in den Bereich von mehr als 45 Grad Schräglage vorzustoßen, müssen sich Reifen und Fahrbahn zunehmend formschlüssig verzahnen. Im Bild rechts ist die Fliehkraft ungefähr 1,7-mal so groß wie die Gewichtskraft. Würde die Seitenführungskraft diese Kraftspitze nicht ausgleichen, wäre der Abflug programmiert. Werte wie μ = 1 sind nur mit sehr haftfreudigen Reifen und griffigem Asphalt möglich.

Ducati Diavel


Bei aufrechter Sitzhaltung auf der Ducati Diavel verläuft der Schwerpunkt mittig durch Fahrer und Maschine. Tempo: 50 km/h.

Ein gutes Beispiel für unterschiedliche Tempi bei identischer Schräglage liefert die Ducati Diavel. Da ihre Schräglage durch aufsetzende Teile begrenzt ist, zirkelt man mit jedem Fahrstil gleich schräg (41 Grad Fahrzeugschräglage) um die Kreisbahn. Bei aufrechter Sitzhaltung verläuft der Schwerpunkt mittig durch Fahrer und Maschine. Tempo: 50 km/h.

Dieser Fahrstil sieht nicht nur schlimm aus, er fühlt sich auf der Ducati Diavel auch furchtbar an. Der nach außen gewanderte Gesamtschwerpunkt begrenzt die Geschwindigkeit auf 47 km/h.

Für aussagekräftige Testergebnisse machen wir (fast!) alles: Dieser Fahrstil sieht nicht nur schlimm aus, er fühlt sich auf solch einem Bike auch furchtbar an. Bei der ungewohnten Haltung hat es ein wenig gedauert, bis die Rasten aufgesetzt haben. Der nach außen gewanderte Gesamtschwerpunkt begrenzt die Geschwindigkeit auf 47 km/h.
 
Hanging-off ist bei einem Cruiser wie der Ducati Diavel zwar nicht der übliche Fahrstil, doch im Vergleich zum Drücken ist er um Welten besser!

Hanging-off ist bei einem Cruiser zwar nicht der übliche Fahrstil, doch im Vergleich zum Drücken ist er um Welten besser! Der Gesamtschwerpunkt von Fahrer und Maschine wandert stark nach unten, was der Fuhre mit 53 km/h ihren höchsten Speed beschert.

Der Kammsche Kreis

Der Kammsche Kreis stellt die Kräfte dar, die ein Reifen in Kurven überträgt.

In Kurven überträgt ein Reifen verschiedene Kräfte, die der Kammsche Kreis darstellt: Seitenkräfte, damit das Motorrad nicht aus der Kurve rutscht, und Umfangskräfte beim Bremsen und Beschleunigen. Braust ein Fahrer mit maximaler Schräglage durch die Kurve (äußerster linker und äußerster rechter Punkt im Kammschen Kreis), sind die Seitenkräfte voll ausgereizt. Der Reifen kann jetzt keine Umfangskräfte mehr übertragen. Gibt der Pilot in dieser Situation Gas oder geht auf die Bremse, riskiert er einen Crash.
Der grüne Pfeil zeigt eine Situation in mittlerer Schräglage, die zirka 50 Prozent der Seitenführungskraft der Reifen beansprucht. Die möglichen Umfangskräfte liegen dann bei etwa 85 Prozent dessen, was ohne Schräglage möglich wäre. Der rote Pfeil stellt eine Situation in fast maximaler Schräglage dar. 99 Prozent der Seitenkräfte werden genutzt. Fordert der Pilot nun mehr als 10 Prozent der auf einer Geraden möglichen Umfangskräfte ab, geht er zu Boden. Achtung: Der Winkel eines Pfeils gegen die Senkrechte entspricht nicht dem Schräglagenwinkel des Motorrads! Der ist jeweils abhängig vom Zusammenspiel von Belag und Reifen.

Haftung und Verzahnung

Die sogenannte Mikrorauigkeit (rot) verbessert die Haftung speziell bei Nässe entscheidend, während die Makrorauigkeit (grün) überwiegend die grobe Verzahnung bei trockener Straße verbessert.

Die sogenannte Mikrorauigkeit (rot), deren Rautiefe zwischen 0,001 und 0,1 Millimetern liegen kann, verbessert die Haftung speziell bei Nässe entscheidend, während die Makrorauigkeit (grün) zwischen 0,1 und 10 Millimetern angesiedelt ist und überwiegend die grobe Verzahnung bei trockener Straße verbessert.

Die Reifenaufstandsfläche, der sogenannte Latsch (rot), stellt den Kontakt zwischen Straße und Motorrad her.

Die Reifenaufstandsfläche, der sogenannte Latsch (rot), stellt den Kontakt zwischen Straße und Motorrad her. Die Skizze zeigt einen 180er-Sportreifen mit spitzer Reifenkontur in 48 Grad Schräglage. Aus etwa 38 Quadratzentimetern Kontaktfläche ergibt sich die Seitenführungskraft des Reifens. Meist hat gerade einmal ein Reifenteil in der Größe einer Kreditkarte Bodenkontakt.

Die Mirkostruktur der Straßenoberfläche ist entscheidend für den Grip des Reifens.
 
Die Straße sieht rau wie eine Raspel aus. Trotzdem ist sie für Motorradfahrer unter Umständen glatt wie Schmierseife – besonders bei Nässe. Das liegt daran, dass grobe Oberflächen nicht gleich guten Grip bedeuten. Das Feine dazwischen, die Mikrostruktur, ist entscheidend. Ideal ist ein Belag, bei dem sich zwischen den groben Steinen feinste Steine in der richtigen Höhe befinden, sodass der Reifen maximal mit der Straße verbunden ist. Ein Rennbelag wird deshalb aus Bitumen mit unterschiedlich großen Steinchen gemischt. Achtung: Auf frisch geteerten Straßen überlagert Bitumen besonders die Mikorauigkeit. Es dauert einige Wochen, bis der Belag ausgewaschen ist und guten Grip bieten kann.

Blau: Der Gummi ist zu hart, um sich mit der rauen Oberfläche zu verzahnen. Rot: Mit steigender Temperatur bildet die warme Lauffläche des Reifens einen nahezu formschlüssigen Kontakt zur Straße.

Bei zu niedrigen Reifentemperaturen kann es bei speziellen Gummimischungen, zum Beispiel für den Sporteinsatz, zum Glasverhalten kommen. Der Gummi ist zu hart, um sich mit der rauen Oberfläche zu verzahnen (blau). Erst mit steigender Temperatur bildet die warme Lauffläche des Reifens (rot) einen nahezu formschlüssigen Kontakt zur Straße.

Durchs berühmt-berüchtigte Karussell der Nordschleife holpert man mit zirka 58 Grad Schräglage.

Durchs berühmt-berüchtigte Karussell der Nordschleife holpert man mit zirka 58 Grad Schräglage. Wegen der Überhöhung der Kurve beträgt die echte Fahrzeugschräglage (gemessen zur horizontalen Linie) jedoch nur ungefähr 33 Grad. Subjektiv fühlt es sich freilich viel schräger an. Unabhängig davon hat man in diesem Abschnitt jedes Mal Angst, seine Plomben zu verlieren.

Schräglagen und Geschwindigkeiten
Welches Bike fährt mit welchem Stil wie schräg und wie schnell? Die Tabelle bietet eine Übersicht. Spitzenreiter ist die Fireblade auf waschechten Qualifiern aus der Superbike-WM: 55 Grad Schräglage (kombiniert) und 65 km/h. Witzig: Rechnet man Marc Márquez‘ Schräglage von 66 Grad (ebenfalls kombiniert) auf unsere Kreisbahn hoch, würde er mit satten 78 km/h um den Radius brennen. Da müssen wir wohl noch ein bisschen üben... Schlusslicht bildet die in der Schräglage begrenzte Diavel. Die Husqvarna ist mit Hanging-off genauso schnell wie im typischen Sumo-Stil (Drücken): 62 km/h. Folgerichtig sind auch die kombinierten Schräglagen (Fahrer mit Bike) identisch.

Honda Fireblade

Fahrstil Fahrzeugschräglage/ kombinierte Schräglage Geschwindigkeit
Aufrecht 45°/45°, 55 km/h
Drücken 46°/43°, 53 km/h
Hanging-off 48°/51°, 61 km/h
Pirelli SBK   Qualifier 53°/55°, 65 km/h
Marc Márquez 62°/66°, 78 km/h

BMW S 1000 R
Fahrstil Fahrzeugschräglage/ kombinierte Schräglage Geschwindigkeit
Aufrecht 46°/46°, 56 km/h
Drücken 47°/44°, 54 km/h
Hanging-off 47°/50°, 59 km/h
Pirelli SBK Qualifier - -
Marc Márquez - -

Ducati Diavel
Fahrstil Fahrzeugschräglage/ kombinierte Schräglage Geschwindigkeit
Aufrecht 41°/41°, 50 km/h
Drücken 41°/38°, 47 km/h
Hanging-off 41°/44°, 53 km/h
Pirelli SBK Qualifier - -
Marc Márquez - -

Husqvarna 701 Supermoto
Fahrstil Fahrzeugschräglage/ kombinierte Schräglage Geschwindigkeit
Aufrecht 47°/47°, 57 km/h
Drücken 57°/51°, 62 km/h
Hanging-off 46°/51°, 62 km/h
Pirelli SBK Qualifier - -
Marc Márquez - -

Reibwerte und Schräglagen
Die Höhe der Haftreibung („Grip“) wird mit dem Reibwertkoeffizient µ bezeichnet. Je höher sie ausfällt, desto größere Kräfte können übertragen werden. Das gilt für die Umfangskraft (beschleunigen und bremsen) genauso wie für die Seitenführungskraft, die für Schräglagen nötig ist. Der Reibwert auf Landstraßen beträgt ungefähr µ = 1. Daraus errechnet sich eine Schräglage von 45 Grad. Auf nasser Straße liegen die Werte bei µ = 0,5 und 27 Grad. Die obere Grenze markiert die Rennstrecke mit µ = 1,9, auf der maximal 62 Grad Fahrzeugschräglage möglich sind. Auf Eis (µ = 0,08 ) geht fast nichts: Bei 4,5 Grad ist Sense.

Reibwert*
Fahrzeugschräglage
Rennstrecke/MotoGP-Reifen ~1,9, 62°
Rennstrecke/Hypersportreifen ~1,4, 55°
Landstraße   rau/Straßenreifen ~1,0, 45°
Landstraße   normal/Straßenreifen ~0,8, 39°
Nasse   Landstraße/Straßenreifen ~0,5, 27°
Nasse Zebrastreifen/Straßenreifen ~0,3, 17°
Eis/Strasenreifen ~0,08, 4,5°

*Berechnungsgrundlage neutrale Schräglage

Für Spezialisten

F: Kraft; m: Fahrzeugmasse; v: Geschwindigkeit; r: Kurvenradius; alpha: Schräglagenwinkel; g: Erdbeschleunigung.

Die Fliehkraft (Fflieh) heißt korrekt Zentrifugalkraft. Sie ist eine Trägheitskraft, die bei Dreh- und Kreisbewegungen auftritt und von der Rotationsachse nach außen gerichtet ist. Sie setzt sich aus der Geschwindigkeit (v), der Masse (m) und dem Radius (r) zusammen, den ein Körper beschreibt. Die Kraft steigt, wenn die Masse oder die Geschwindigkeit zunimmt oder der Kurvenradius kleiner wird. Um ein Einspurfahrzeug in Schräglage zu halten, bedarf es einer Gegenkraft (Fgegen). Setzt man beide Formeln gleich, kann die effektive Schräglage des Fahrzeuges ermittelt werden. Der notwendige Reibungskoeffizient (µ) kann ebenfalls über den Schräglagenwinkel errechnet werden.


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